Ostdeutschland in Wessi-Hand

29/10/2024
T V  |  Z D F     Auch 35 Jahre nach dem Mauerfall herrscht Ungleichgewicht: Viele Chefposten im Osten sind immer noch durch Menschen aus dem Westen Deutschlands besetzt. Gemeinsam mit meinen Kollegen Nico Schmolke und David Donschen fragen wir für das ZDF-Format „What The Fact“: Warum ist das so?   | Meine Leistung: Recherche, Regie 

Seit dem Mauerfall sind hunderttausende Westdeutsche in den Osten gekommen. Bis heute nehmen sie wichtige Führungspositionen ein – mit tiefgreifenden Folgen für Ostdeutschland.

Westdeutsche im Osten: Für die einen sind sie Aufbauhelfer, ohne die Wiedervereinigung und Aufbau Ost nicht gelungen wären. Für andere sind sie “Besserwessis”, die vor allem auf den eigenen Vorteil aus sind. Und die bis heute für die Benachteiligung des Ostens stehen.

Der Film läuft am 30.10.24 im linearen Fernsehen und ist ab sofort in der ZDF-Mediathek verfügbar.

Ostdeutschland hat seit dem Mauerfall eine beispiellose Transformation erlebt, bei der westdeutsche Zuwanderer eine bedeutende Rolle spielen. Sie kamen oft als junge Leute in die ehemalige DDR, knüpften Kontakte und stiegen in Führungspositionen auf, aus denen heraus sie den Osten bis heute prägen. Laut dem Elitenmonitor sind in Ostdeutschland mehr als 30 Jahre nach der Wende rund drei Viertel der Führungskräfte westdeutsch.

Ist das eine entscheidende Ursache für die Elitendistanz im Osten, für die Ablehnung des demokratischen Systems und den großen Zuspruch für die AfD? Die Wut auf den vermeintlich dominierenden Westen ist jedenfalls groß, wie der verblüffende Erfolg von Dirk Oschmanns Buch “Der Osten: Eine westdeutsche Erfindung” zeigt. Seit mehr als einem Jahr füllt der Wissenschaftler bei seinen Lesungen riesige ostdeutsche Säle, wie auch in Chemnitz im August 2024. Viele können nur noch von draußen lauschen, wie Dirk Oschmann die westdeutschen Eliten für ihre Ignoranz gegenüber ostdeutschen Bedürfnissen kritisiert. Vor der Kamera schildern mehrere Zuschauerinnen und Zuschauer ihre eigenen Gefühle der Zurücksetzung.

Bei den Landtagswahlen im Herbst 2024 schaut nun wieder ganz Deutschland auf den Osten, konkret auf Sachsen, Thüringen und Brandenburg. Fast die Hälfte der Menschen wählen dort mit AfD und BSW Parteien, bei denen die Kritik gegenüber herrschenden Eliten zentral ist, die angeblich nicht den Willen des Volkes befolgen würden. In Brandenburg ist BSW-Spitzenkandidat Alexander Crumbach gemeinsam mit Aushängeschild Sarah Wagenknecht auf der Potsdamer Wahlkampfbühne, wenige Tage vor der Abstimmung. Crumbach ist selbst im Westen geboren und später als Arbeitsrichter nach Brandenburg gekommen. In seinem Wahlprogramm steht nun aber die Forderung nach einer Untergrenze für Ostdeutsche bei der Besetzung von Stellen im öffentlichen Dienst – eine Art Ost-Quote. Kann das Problem so gelöst werden?

Direkt nach dem Mauerfall jedenfalls wurden Westdeutsche dringend gebraucht. Viele DDR-Juristen wurden aussortiert oder hatten unzureichende Ausbildung. Iris Goerke-Berzau kam in den 90er Jahren nach Sachsen-Anhalt und half beim Aufbau der Justiz. Sie passt nicht ins Klischee vom minderqualifizierten Westler, der im Osten Karriere macht. Als Prädikatsabsolventin opferte sie viel, um hier zu arbeiten. Sie stieg bis zur Vorsitzenden Richterin am Oberlandesgericht in Naumburg auf. Die starke Überrepräsentation von Westdeutschen in der ostdeutschen Justiz, auch 34 Jahre nach dem Mauerfall, lässt sich aus historischen Zusammenhängen erklären. In Sachsen-Anhalt lag ihr Anteil in Justiz-Führungspositionen 2023 bei 88 Prozent.

Noch frappierender sind die Zahlen laut Elitenmonitor für die Wirtschaft. Gerade einmal gut vier Prozent der Eliten sind hier ostdeutsch. Die Wirtschaft in den neuen Bundesländern, sie wird bestimmt von Menschen wie Ludwig Koehne. Als Oxford-Absolvent kam der Westdeutsche 1992 in den Osten und arbeitete für die Treuhand in der Abwicklung. Er betont den Kampf für Arbeitsplätze, erkennt jedoch, dass hauptsächlich westdeutsche Unternehmer profitierten. Als die Treuhand 1994

aufgelöst wurde, gingen 80 Prozent der Firmen an Käufer aus dem Westen, nur 6 Prozent an Ostdeutsche. Koehne übernahm 1994 das VEB „Schwermaschinen S.M. Kirow“ in Leipzig und machte es zum Weltmarktführer für Eisenbahnkrane. Er betont, dass ohne westliches Wissen und Kapital die Rettung nicht möglich gewesen wäre. Allerdings bleibt aus seiner Sicht die systematische Benachteiligung ostdeutscher Unternehmer bestehen.

Mit Angela Merkel oder Joachim Gauck gibt es prominente Ausnahmen – Ostdeutsche, die es geschafft haben. Eine von ihnen ist auch Manja Kliese, 45 Jahre alt, die im Auswärtigen Amt das Krisenreaktionszentrum leitet. Viel zu oft werden diese wenigen Ostdeutschen, die Teil der Elite geworden sind, als Beweis für ein Ende aller Ost-West-Unterschiede angeführt. Manja Kliese aber weiß: “Viele Ostdeutsche trauen sich gar nicht erst, sich für Laufbahnen wie meine zu bewerben.” Auch im Auswärtigen Amt seien Ostdeutsche in leitenden Positionen unterrepräsentiert.

Kliese hat die gläserne Decke durchstoßen, die es auch für andere Minderheiten in diesem Land gibt, wenn es um Aufstieg in Führungspositionen geht. Nur dass im Osten der Sonderfall ist: Hier bestimmen Menschen über eine Region, aus der sie gar nicht kommen. “Wir haben ein riesiges Demokratieproblem”, so Kliese, “wenn die Menschen im Osten jahrzehntelang fremdbestimmt werden.” Die enorme Elitendistanz und die Zustimmung zu Rechtsextremen erklärt sie sich auch damit. Und ermutigt andere Ostdeutsche, sich einzubringen und den Osten besser zu vertreten.

#WTF – What the Fact? Steht bei ZDFinfo dafür, den Finger in die Wunden zu legen. Ein Format, das Zusammenhänge hintergründig und unterhaltsam erklärt, gespickt mit überraschenden Fakten.